Stand: 23.12.2015 12:05 Uhr
von Jan Feddersen
Stimmiges Gesamtpaket: ESC-Sieger Måns Zelmerlöw performte in Wien, als sei "Heroes" ein Video im Liveformat.
Ein Kommentator zum ersten Teil dieses Blicks zurück auf den 60. Eurovision Song Contest in Wien schrieb, auf die Inszenierung sei es schon immer angekommen. Andere fanden, das Lied "Heroes" sei schwach gewesen. Sie liegen richtig - und doch falsch zugleich. Wer das Verständnis hat, der ESC sei doch ein Komponisten - und Texterwettbewerb (so sagt es ja das Regelwerk seit Ende der fünfziger Jahre), irrt grundsätzlich. Wäre es ein Schausingen mit Texten und Melodien, wären die Interpreten ja egal. Aber da es ein TV-Ereignis immer war, sind die Künstler und Künstlerinnen es natürlich nicht. Juroren - und heutzutage zur Hälfte die Zuschauer über das Televoting - waren nie blind für die Anmutung eines Lied in visueller Hinsicht. Und sie sollten es ja auch nicht sein.
VIDEO: Gewinner-Auftritt | Måns Zelmerlöw: "Heroes" (4 Min)
Popmusik verkauft sich auch auf dem Markt nie allein über die Güte von Tonfolgen und Textbausteinen. Worauf es ankommt, ist die Stimmigkeit des Gesamtpakets. Text, Musik, Aussehen, Inszenierung. Und das alles den Kameras so ins Bild gesetzt, dass es optimal sich vermittelt. Wäre der ESC wirklich ein Wettbewerb, über dessen Rangfolgen Texte und Kompositionen entscheiden, hätte 1974 "Waterloo" auch in der Fassung von gewonnen - nur mal so theoretisch ausgemalt. Jeder weiß: Niemals wäre es so gekommen. Abba waren damals das coolste, was es im Mainstream des Popgeschehens zu haben gab - und Cindy & Bert, im Blick der internationalen Juroren, eher schwermütige Deutsche: Kein Blumenpott mit zu gewinnen, Mauerblümchenmusik (und mir gefiel es damals …).
Das Lied ist nicht alles
Abba legten 1974 mit "Waterloo" den Grundstein für Schwedens Musikindustrie - und Måns Zelmerlöws ESC-Sieg.
Abbas Sieg damals hat Schwedens Musikindustrie begründet. Und Måns Zelmerlöws Triumph von Wien war sozusagen das folgerichtigste Ergebnis dieser eurovisionären Anstrengung, die vor allem in Stockholm ihren Ort hat, wie der Nachrichtendienst "Bloomberg" unterstreicht. Dort befinden sich fünf Dutzend Musikstudios, in denen Tag für Tag daran gewerkelt wird, Pop zu produzieren. Nicht allein für den schwedischen Markt, sondern immer für alles, was über die Grenzen hinausweist.
Alles ist qualitätsbewusstes Handwerk in Schweden - und dazu gehört das Bewusstsein, dass Newcomer beim ESC es schwer haben müssen, weil sie auf der Bühne noch allzu sehr darüber nachdenken, dass ja alles so neu und toll ist. Måns Zelmerlöw, der so sicher, fast perfekt seine countryfröhliche Nummer "Heroes" abspulte, Probe für Probe bis hin zum Finale. Popmusik, ließe sich schlussfolgern, muss man können. Schauspielkunst ist auch nicht über Nacht erlernbar. Die ESC-Künstler, die aus Schweden kamen, sind fast ohne Ausnahme Sänger und Sängerinnen mit teils langjähriger Bühnenerfahrung. Und ihre Komponisten und Texter, ihre Choreographen und Dramaturgen sind durch die Bank versierte Leute. Ein Artikel aus dem englischsprachigen Magazin "Spectator“ unterfüttert diesen Befund, auch ein Text aus dem "New Yorker" von Sasha Frere-Jones hat sich dieses Phänomens angenommen:Schwedens Musikindustrie tummelt sich international - und der ESC ist für sie quasi eines der wichtigsten Testfelder für die Güte des eigenen Schaffens.
(Nebenbei: Es gibt eine starke Verwandtschaft zwischen dem schwedischen Verständnis von Qualität, die nur über jahrelanges Handwerkern auf allen Ebenen zustande kommt, und Ralph Siegels Engagement über alle Jahrzehnte seit 1974. Siegel ist der Handwerker, der Tüftler, der Detailversessene schlechthin - der Unterschied ist nur, dass er in der Regel, seit Nicole 1982, Interpreten ins Rennen schickte, die ihre Lieder mehr "spielten" als sie selbst zu verkörpern.)
ESC-Pop für alle
"Heroes" - das ist modernster ESC-Pop, der sich nicht an Geschmacksnischen richtet, sondern an die sogenannte breite Masse. Das war Videoästhetik für das Liveformat. Måns Zelmerlöw hat es geschafft, seinen Beitrag in Studioqualität nicht nur zu singen, sondern auch zu performen: Es sah aus wie ein maßgeschneiderter Clip. So wird die Zukunft des ESC aussehen: Künstler und Künstlerinnen werden auf der Bühne stehen, um die Anmutung des Zufälligen zu tilgen. Der Unterschied zu Liedern Beyoncés oder Rihannas ist dann nur noch marginal. Auch diese Topstars US-amerikanischen Popschaffens sehen auf Tournee so aus wie in ihren Clips - das Publikum erwartet schließlich Perfektion.
Früher gab es beim ESC - man schaue sich Clips bis Mitte der Siebzigerjahre an - nur wenige Kameras, die die Bühnendarstellungen einfangen konnten. Inzwischen gibt es "Spinnen", von oben auf die Künstler gerichtete Kameras, die an Stahl-Karbon-Bändern unterm Hallendach hin und her sausen, um von dort Bilder aufzunehmen. Heraus kommt durch die Kameratechnik eine regiegesteuerte schnelle Schnittfolge von Bildern, die sich kaum noch von Videoclips unterscheiden. Wie gesagt: Dass das früher nicht war, heißt nicht, dass es mehr auf Komposition und Text ankam. Sondern dass es technisch nicht möglich war.
Kein Detail zu klein …
Konventionelle Bilderfluten: Polina Gagarina, die ESC-Zweite von Wien 2015, trägt "A Million Voices" vor.
Unerheblich bleibt aber, ob es sich um eine Ballade oder um ein Up-Tempo-Stück handelt. Die ersten 20 ESC-Jahre reichte es fast aus, hinterm Vorhang der Bühne hervorzukommen, sich ans Mikro zu stellen und zu singen, möglichst nicht schief und krumm. Jedes Drei-Minuten-Lied hat heute tagelange Proben zur Voraussetzung, da geht es um Schritte und Blicke, um Licht und Schatten - und um Kameraperspektiven. Pop ist auch das ewige Training in Optimierung von Eindrücken. Eine Doku über eine Tournee Helene Fischers belegt dies: Kein Detail ist zu klein, als dass es nicht Beachtung fände. Und man sieht: Alles ist Arbeit, alles ist Handwerk, alles ist Ringen um Perfektion.
Es gab beim ESC in Wien auch konventionelle Bilderfluten, etwa verkörpert in dem Vortrag der Russin Polina Gagarina (zweiter Platz) und dem italienischen Trio Il Volo. Schlichte, auch sehr gut performte Lieder, handwerklich sehr gut in Szene gesetzt, aber doch nicht dem Konzept der Schweden gewachsen. Der Belgier lag mit seinem Lied "Rhythm Inside" Måns Zelmerlöw am nächsten: Loïc Nottets Nummer (vierter Platz) wäre mit den Inszenierungsmöglichkeiten der Sechzigerjahre nicht aufzuführen möglich gewesen. Er war auch ein mächtiges Indiz, wohin die ESC-Reise gehen wird.
Wer gut abschneiden will, muss viel mehr als ein Lied singen. Es muss eine Geschichte erzählen, die sich nicht nur textlich (ob in der Landessprache, in gutem oder schlechtem Englisch) erschließt. Es darf hinter den Möglichkeiten des modernen Pop nicht zurückbleiben. Die schwedische Popindustrie wird es in den Wochen des Melodifestivalen im Frühjahr und beim Finale Mitte Mai in Stockholm beweisen: Kunst kommt von Können - es darf nur nicht nach harter Arbeit aussehen.
Weitere Informationen
Rückblick 1: Måns Zelmerlöw - die neue ESC-Dimension
Es gibt erklärbare Gründe, weshalb Schweden beim ESC so erfolgreich ist - wie dieses Jahr schon wieder. Die anderen Länder werden sich in Zukunft an diesem Land orientieren müssen.mehr
Dieses Thema im Programm:
Das Erste |Eurovision Song Contest |23.05.2015 | 21:00 Uhr
Schlagwörter zu diesem Artikel
Österreich
Schweden
2015
Beitrag teilen